Ich hake ziemlich genau bei meinem Vorredner ein: Es gibt einen einfachen Grund, warum noch nie jemand Napoleon als historische Figur in einen Kinofilm gepackt hat: Es geht schlicht nicht! Entweder man beleuchtet eine Schlacht oder einen Zeitabschnitt. Aber die ganze Biografie in 2 ½ Stunden zu stemmen, birgt das hohe filmische Risiko, dass man nur leicht an der Oberfläche kratzen kann. Und genau das passiert leider hier. Im simplen und trockenen Napoleon-Best-of von Altmeister Ridley Scott gilt es v.a. das Drehbuch zu bemängeln, welches einfach alles lustlos aneinanderreiht, mit falschem Schwerpunkt beim trivialen Liebesleben, wobei man Liebe und Leidenschaft auf der Leinwand ebenfalls suchen muss (was findet sie eigentlich an ihm?). Das Hüpfen durch die Historie bietet nie wirkliche Identifikation oder einen Tiefgang, sondern nützt sich schnell ab, trotz der Settings, viel CGI und eigentlich sehr ansprechender Atmosphäre. Es gibt bei den Protagonisten innerhalb von 20 Jahren Europa-Geschichte nur einen einzigen Fokus: Napoleon (und ein wenig Joséphine). Alle anderen Darsteller sind maximal Statisten ohne Profil. Klar: Hätte man charakterlich noch mehr reingebracht (was übrigens Ridley Scott bei «Gladiator» hervorragend gelang), und hätte man z.B. noch mehr vom Elend portraitiert, welches Napoleon in Mitteleuropa hervorbrachte, hätte es eine mehrteilige TV-Serie werden müssen. Für einen Kinofilm bleibt es aber eine unpersönliche Geschichtslektion, mit belanglosen Schlachten: Der Russlandfeldzug wird sehr verkürzt dargestellt, die Völkerschlacht um Leipzig fehlt gänzlich, und auch Waterloo ist schon fast langweilig. Napoleon’s wichtiges Vermächtnis für heutige Regierungsgesetze (der «Code Civil») wird mit keiner Silbe erwähnt. Leider fehlt auch der Darstellung von Joaquim Phoenix letztlich die Seele. Obwohl ihm der quergetragene Napoleon-Hut sehr gut steht, trägt er mit seinem stoischen und emotionslosen Schauspiel auch nicht zur Tiefenschärfe bei – wo ist das Charisma? Warum nicht mehr Euphorie und Energie reinkam, bleibt ein Rätsel. Das Potenzial wäre nämlich da, schon nur wenn man Napoleon als Taktiker und Strategen beleuchtet hätte. Stattdessen wird Napoleon als melancholisch-depressiver, fast schon ulkiger Lüstling mit einem Frauenkomplex gezeigt, der beiläufig in die Schlachten zieht und nur durch die Liebe zu Joséphine gewinnen kann. Alle Stationen werden im Galopp kurz abgehakt, zusammenhangslos durchgespult, bis er irgendwann auf St. Helena sitzt. Auf der Habenseite stehen immerhin die Szenerie, die Tontechnik, die Kostüme und die Kameraführung. Handwerklich ist der Film durchaus auf hohem Niveau, was bei einer solchen Produktion auch zu erwarten war. Die Bilder in Grautönen sind düster – nichts ist farbig in Frankreich nach der Revolution. Somit liefert der Film einzig die Erkenntnis, dass der Aufstieg und der Fall des Emporkömmlings Napoleon nicht in 160 Filmminuten passen. Schade für Ridley Scott – es ist eines seiner schlechteren Werke. Er hat ja einen angeblich viereinhalb Stunden langen Director’s Cut angekündigt, welcher irgendwann bei Apple TV+ erscheinen wird. Ob das mehr Tiefe + Seele mit sich bringt, bleibt offen.
Zuletzt editiert: 04.12.2023 13:37:00