Spezielle Biografien sind immer interessant und verdienen Aufmerksamkeit. Bruno Dössekker alias Binjamin Wilkomirski wollte genau das im Leben: Aufmerksamkeit. Und erfand 1995 mit dem Buch «Bruchstücke» (Fragments) ein weltweit gefeiertes Selbstportrait eines Kindes im KZ, wo er nie war. Ist es legitim, damit sein Umfeld absichtlich zu täuschen, wenn eben vielleicht genau die eigene Kindheit so zerstörend war, dass die Täuschung nicht nur absichtlich geschah, sondern Teil der eigenen Identitätssuche ist? Wie weit darf man gehen? Vor allem vor dem Hintergrund des Holocaust? 20 Jahre nach der "Lüge" nimmt der demnächst 80-jährige Protagonist erstmals Bezug und Stellung dazu.
Fiktion – Entlarvung – Bewältigung. Und stetige Suche nach dem eigenen Ich! Auch die Parallelen zur generell jüdischen Identitätssuche nach dem 2. Weltkrieg sind bewegend. Es wird nachvollziehbar, dass sich Bruno Dössekker zum Unterdrückten hingezogen fühlte. Das jüdische Schicksal bot den perfekten Hintergrund für sein eigenes Schicksal! Die Dimension ist faszinierend und erschreckend zugleich. Der Dokumentarfilm von Rolando Colla nähert sich dem Thema subtil, ohne zu werten. Wilkomirski ist auch ein Phänomen aus einer Zeit, wo selbst die Schweiz ihre Identität und den Umgang mit dem Holocaust suchte (Stichwort jüdische Vermögen bei Schweizer Banken). Durch die filmische Erzählweise in 5 Kapiteln mit dem für sich stehenden Epilog gelingt nicht nur eine Auseinandersetzung und Annäherung zum Phänomen Wilkomirski, sondern auch ein Blick auf das eigene Leben. Wie bilde ich mir Identitäten? Wo konstruiere ich? Was ist Wahrheit? Ist Aufmerksamkeit auch eine soziale Währung? Ist dies nicht zutiefst menschlich? Wenn man so stark heruntergeknechtet wird, ist dann der einzige Ausweg eine neue Identität? Oder positiv formuliert: Wer menschenwürdig behandelt wird, sieht sich auch nicht zu einem solchen Schritt veranlasst.
Bruno Dössekker wollte Opfer sein und wurde Täter! Unglaublich eindrücklich! Als Portrait dokumentarisch von grossem Wert, nie effekthascherisch, nie moralisierend. Der Film lässt erlebbar werden, wie sich existenzielle Orientierungslosigkeit anfühlen muss.